Schon häufiger wurde an mich die Bitte herangetragen, einmal aufzuschreiben, wie die Linsen zurück ins Saarland gekommen sind. Keine Frage, weit vor unserer Zeit, bereits vor Jahrhunderten bzw. Jahrtausenden ist der Linsenanbau im Landstrich an Saar und Blies belegt. Meine bescheidene Rolle beschränkt sich allenfalls auf eine neuerliche Rekultivierung.
Als geborener und eher montangeprägter Völklinger hätte ich mir einst nie träumen lassen, mich einmal mit landwirtschaftlichen Fragen zu beschäftigen. Aber es war wohl das Spannungsfeld von Industrie- und Agrikultur, das mich reizte und ermutigte, eine Regionalinitiative zu starten und damit unserer Landwirtschaft ein paar bescheidene Impulse zu geben.
Also begab ich mich auf ein fremdes Terrain, nicht mit der Absicht, etwas Neues zu erfinden, sondern an Vergangenes anzuknüpfen. Historiker haben die Historie des Saarlandes gut aufgearbeitet, doch die Agrargeschichte gehört weniger dazu. Obwohl wir uns als Region bezeichnen, die für gutes Essen steht, finden sich über die Gewinnung von Lebensmitteln kaum erschlossene Quellen.
Aus meiner Sicht ist es problematisch, das heutige „Sarrevoir vivre“ auf die Vergangenheit zu projizieren. Bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts bestimmte meist „Schmalhans“ die Mahlzeiten unserer Altvorderen, war man froh, die Mägen mit irgendetwas Nahrhaften füllen zu können.
Dennoch bin ich bei näherer Beschäftigung mit der saarländischen Tischkultur auf Indizien gestoßen, die das Saarland als vielfältigen Landstrich erscheinen lassen. Das beweisen schon die vielen Bezüge des Botanikers, Naturheilkundlers und Theologen Hieronymus Bock (1498-1554) in seinem dem Grafen von Saarbrücken gewidmeten Kräuterbuch, von dem ein Exemplar im Historischen Museum am Saarbrücker Schloss bewundert werden kann. Bock beschreibt darin eine (Kultur-) Pflanzenwelt, die noch weitgehend keine „Einwandererpflanzen“ aus Amerika kannte. Über Linsen heißt es darin, dass sie „den harten Bauch“ erweichen. Und weiter: „Die rechte Linsen sind mir neulich aus Lothringen kommen. Sie sind den gemeinen Linsen in allen Dingen gleich aber viel schöner, größer und breiter.“
Aber auch andere Hülsenfrüchte wie Erbsen oder Bohnen (Ackerbohnen) waren aus dem Leben der Menschen vor 500 Jahren und davor nicht wegzudenken. Dies belegen archäologische Ausgrabungen auf dem Gelände der römischen Villa Borg im Landkreis Merzig-Wadern, wo man Reste von Hülsenfrüchten fand. Nur 15 Kilometer südwestlich von Saarbrücken im lothringischen Farébersviller stießen Forscher in keltischen Gräbern neben Ackerbohnen und Erbsen, auf Überreste von Linsen.
Ein historisches Zinsregister der Herrschaft Dagstuhl listet als Ackerfrüchte für das Jahr 1731 Erbsen und Linsen auf. Der Biograf Ludwig Eid wies den Anbau von Linsen im südlichen Bliesgau vor 1786 nach. Ebenso sollen Erbsen im Mündungsarm der Blies (Gersheim) gut gediehen sein.
Nennenswerten Linsenanbau gab es auch im nördlichen Saarland (Oberkirchen). Und der Flurname „Im Bohnenberg“ im Weiskircher Ortsteil Rappweiler kündet heute noch von der einstigen Bedeutung der Ackerbohne.
Im Ersten Weltkrieg bestand eine Anmeldepflicht für angebaute Erbsen, Bohnen und Linsen. Wer zu viel produzierte, musste diese bei der „Reichshülsenfruchtstelle“ abliefern.
Bis nach dem Zweiten Weltkrieg verzehrte man die im Saarland angebauten Linsen ausschließlich im eigenen Umfeld. Später nahm die Agroindustrie einen solchen Aufschwung, dass die Hülsenfrüchte – außer zur Viehfütterung – völlig von unseren Feldern verschwanden. Durch das Fleisch auf dem täglichen Speiseplan verschmähte man immer häufiger auch die Linsensuppe. Weil der menschliche Körper tierisches Eiweiß viel schneller aufnimmt als pflanzliches, dürfte sich dadurch ein gewisser Hang zur Fleischlastigkeit erklären. Leider ein zunehmendes und weltweites Phänomen.
Kurz nachdem ich begann, mich ihm Rahmen von landwirtschaftlichen Projekten näher mit Ölpflanzen zu beschäftigen, stieß ich auf die mir bis dahin unbekannte Leindotterpflanze. Deren Ölfrüchte ergaben nicht nur ein leckeres Speiseöl, sondern eignete sich hervorragend für die „Mischfrucht“, also den Anbau von zwei oder mehr Kulturpflanzen auf einem Feld. Was nicht nur Vorteile für den Ackerboden bietet, sondern auch die Möglichkeit eröffnete, hierüber zum Wiederanbau der Linsenpflanze zu gelangen. Denn die Lens culinaris, wie sie im Lateinischen heißt, ist ein zartes Pflänzchen, das nicht alleine wachsen kann und sich an einem Mischungspartner abstützen muss.
Außer Leindotter kommen hierfür nur noch Hafer oder Gerste infrage. Solche „Stützpflanzen“ dürfen mit den Linsen nicht um Nährstoffe konkurrieren und müssen zeitgleich reifen. So schloss ich Bekanntschaft mit Woldemar Mammel von Deutschlands bekanntestem Linsenanbauprojekt auf der Schwäbischen Alb, wo man über die Linsen auf Leindotter kam, während ich mich über Leindotter auf die Linse zubewegte. Wertvolles Wissen – ich über die Gewinnung von Leindotteröl, Woldemar Mammel über den Linsenanbau – ließ sich transferieren.
Ab 2012 war der erste Landwirt im Bliesgau bereit, Leindotter mit Grünen Linsen anzubauen. Heute sind es fünf Landwirte, die sich liebevoll um das Gedeihen von Grünen („Puy Linsen“), Schwarzen („Beluga Linsen“), Roten („Champagner Linsen“) sowie Berg- und Hellerlinsen für unser Hülsenfrüchteprojekt kümmern. 2019 kamen noch trockene Spalt-Erbsen hinzu.
Rückenwind erfuhr das Projekt von Slow Food, das sich als weltweites Netzwerk für ein sozial und ökologisch verantwortungsvolles Lebensmittelsystem einsetzt. Slow Food ist in 160 Ländern mit diversen Projekten, Kampagnen und Veranstaltungen aktiv, wobei die biokulturelle Vielfalt geschützt werden soll und Tierwohl – „Essen statt vergessen“ – mehr ist als ein Lippenbekenntnis.
Auch hatte zeitgleich die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) für 2016 das Internationale Jahr der Hülsenfrüchte ausgerufen. Laut UN können Erbsen, Bohnen, Kichererbsen, Linsen und andere Hülsenfrüchte (Leguminosen) einen wesentlichen Beitrag zur Überwindung von Hunger und Unterernährung in der Welt sowie zu einer vielfältigen, gesunden Ernährung leisten. Seither initiierte das Slow Food-Convivium Saarland einmal jährlich die „Saarländischen Hülsenfrüchtewochen“ bei bekannten Gastronomen. Darunter Wern’s Mühle in Ottweiler/Fürth, Landgasthof Paulus in Sitzerath, La Maison in Saarlouis, Buchnas Landhotel Saarschleife in Orscholz, Unter der Linde in Saarbrücken St. Arnual, Gräfinthaler Hof in Bliesmengen-Bolchen; das NOA in Zweibrücken oder die Bellevue in Biesingen u.v.m.
Immer ab „Erbsensonntag“, dem ersten Sonntag nach Aschermittwoch und mythologischer Beginn der „Fastenzeit“. An dem Tag rollt nicht nur in Wadrill das „Erbsrad“ gen Tal, sondern wird den Gästen gezeigt, was sich alles Leckeres aus Hülsenfrüchten – allen voran: die saarländischen Linsen – zubereiten lässt. Ab 2022 griffen einige Kantinen die Idee der Hülsenfrüchtewochen auf. So auch vom Zentrum für berufliche Bildung (ZBB) Saarbrücken und der Justizvollzugsanstalt Ottweiler.
2023 markierte ein besonderes Highlight. Erstmals verknüpften wir die Hülsenfrüchtewochen mit der Kutschfahrt des Besseringer Linsenkönigs Matthias I. durch die City von Saarbrücken. Während zu dieser Zeit die saarländische Öffentlichkeit über die Bedeutung eines Gemäldes des Malers Anton von Werner im Historischen Museum streitet (es zeigt die „Ankunft Wilhelm I. in Saarbrücken“ 1870 am St. Johanner Markt in einer Kutsche, die so nie stattgefunden hat), verlief dagegen die Ankunft des „Linsenkönigs“ in einer nicht minder prächtigen Karosse an etwa gleicher Stelle 153 Jahre später völlig ohne falschen Pathos. Immer neugierig von zahlreichen Passanten beobachtet, empfingen viele kleine Linsengaben aus der Hand des Königs. Und das bei bestem „Kaiserwetter“ (siehe Youtube-Film).
Man kann froh sein, dass die Tradition einer Linsenkönigin oder eines Linsenkönigs in Besseringen nicht ausstirbt. Ja, sogar mit der Renaissance von Linsen in der regionalen Küche die Bedeutung dieses alten Brauchs wieder zunimmt.
Im Mai 2023 ließ es sich die saarländische Landwirtschaftsministerin Petra Berg nicht nehmen, die Aussaat von Hellerlinsen am Wareswald bei Tholey selbst vorzunehmen. Quasi auf historischem Boden befand sich ab dem 1. Jahrhundert darauf eine gallo-römische Siedlung. Linsen waren auch schon bei den Römern und Kelten sehr beliebt und dürften also vor 2000 Jahren dort angebaut worden sein. Heute bewirtschaftet Landwirt Franz-Josef Wagner vom Simonshof in Gronig das Feld zwischen Schaumberg und Momberg.
Dem regionalen Handel blieben all diese Aktivitäten nicht verborgen. Saarländische Linsen sind inzwischen aus vielen Warenregalen nicht wegzudenken, wo sie zwar teurer sind als viele andere Sorten. Doch diese stammen meist aus Indien, der Türkei oder Kanada und bieten weder ein glaubwürdiges regionales Geschmackserlebnis noch helfen sie der heimischen Landwirtschaft.
Dank der Linsen-Rekultivierung entstand fernab der Landwirtschaftspolitik eine kleine landwirtschaftliche Regionalinitiative, von der Landwirte, Weiterverarbeiter, Natur & Umwelt und Verbraucher gleichermaßen profitieren. Ein Projekt, dessen Potenziale bei weitem noch gar nicht ausgeschöpft sind. So sollen alte oder seltene Sorten von Linsen, Erbsen und Bohnen, die völlig von unseren Feldern verschwunden sind und daher keinen Gaumen mehr erfreuen, in den nächsten Jahren der Vergessenheit entrissen werden.
Die unterschiedlichen Beschaffenheiten der Böden im Saarland – mal Muschelkalk, mal Buntsandstein – scheinen sich positiv auf den Anbau von feinen Linsen auszuwirken. Auf dem Feld gestützt von Hafer oder Leindotter gedeihen unsere tiefgrünen, blau gesprenkelten Grünen Linsen zu einer aromatischen Delikatesse.
Schon der in Hornbach und Saarbrücken wirkende Botaniker und Mediziner Hieronymus Bock (1498-1554) lobte die Linsen, denn sie „erweichen den harten Bauch“.
Da die Aromastoffe in der Schale stecken, schmecken unsere saarländischen Linsen intensiver als bei geschälten Linsen aus anonymer Massenproduktion.
Über Nacht eingeweicht und etwa 25 Minuten gekocht eignen sie sich besonders gut für Salate und feine Suppen, wo sie ihre Form behalten.
Diese hellbraunen bis rötlichen Linsen werden von der Familie Guillaume im benachbarten Lothringen angebaut. Ursprünglich stammt die Sorte aus der Champagne. Doch es gibt eine Vielzahl von Hinweisen, dass sie im deutschen Sprachraum schon immer als „Lothringer Linsen“ bezeichnet wurden.
Denn schon Hieronymus Bock (1498-1554), berichtet in seinem „Kräuterbuch“ aus 1546 von guten Linsen aus Lothringen: „Sie sind den anderen Linsen gleich aber viel schöner“. Und das „Correspondenzblatt des Königlich Württembergischen Landwirtschaftlichen Vereins“ von 1836 führt eine „rötliche Linse aus Lothringen“ auf.
Diese herzhaften Linsen besitzen einen unverwechselbaren feinnussigen Geschmack und sind eine Bereicherung in jeder kreativen Küche.
Rote Bio-Linsen müssen nicht zwingend eingeweicht werden. Sie kochen eher fest und zerfallen beim Kochen nicht so leicht wie andere Linsensorten. Sie eignen sich deshalb ideal für Salate oder als Beilage. Ihre Garzeit beträgt etwa 20 Minuten.
Die oberhalb des Saartals gewachsenen Schwarzen Linsen sind eine weitere feine Linsen-Spezialität. Die kleinen, glänzenden Linsen mit einzigartigem Aroma überzeugen längst auch viele saarländische Profi-Köche. Denn sie entwickeln beim Garen ein nussiges Aroma, das an Maronen erinnert. Manche nennen die Schwarze Linse auch „Beluga Linse“, was sich durch die äußerliche Ähnlichkeit vom gleichnamigen Kaviar ableitet und – wie dieser – sehr edel im Geschmack ist.
Belugalinsen müssen nicht zwingend eingeweicht werden. Sie kochen eher fest und zerfallen beim Kochen nicht so leicht wie andere Linsensorten. Sie eignen sich deshalb ideal für Salate oder als Beilage. Ihre Garzeit beträgt etwa 20 Minuten.
Hellerlinsen? Müsste es nicht Tellerlinsen heißen? Zumindest ist das eine Frage, die sehr häufig gestellt wird. Tatsächlich heißt es Hellerlinse. Denn der Heller war in vielen Teilen Deutschlands bis ins 19. Jahrhundert die kleinste Währungseinheit. Aus Münzen mit sehr kleinem Durchmesser wie die Linsen, machte der Volksmund Hellerlinsen. Als der Heller vom Pfennig abgelöst wurde, ersetzte man das „H“ durch ein „T“. Und schon konnte die Hellerlinse ihre Karriere als „Tellerlinse“ fortsetzen.
Vor hundert Jahren war sie Deutschlands meistangebaute und meistverkaufte Linsensorte – und das nicht ohne Grund: von deftigen Eintöpfen, bis hin zu Brotaufstrichen fand die eiweißreiche Hülsenfrucht ihren Weg auf vielfältige Weise auf den Essenstisch.
Das „Universal-Lexikon der Kochkunst“ von 1886 listet nicht weniger als fünfzehn verschiedene Linsengerichte und acht Linsensorten auf, darunter „die grosse Gartenlinse, auch Pfennig- oder Hellerlinse genannt…“.
Besonders häufig findet man die braunen Berglinsen in der süddeutschen Küche. Der Geschmack reicht von erdig bis nussig und erinnert etwas an Maronen. Da die Aromastoffe in der Schale stecken, schmecken unsere braunen Linsen sehr intensiv.
Wer bei braunen Linsen nur an Eintöpfe und Suppen denkt, sollte sich einmal in anderen Küchen umschauen. Die Linsen lassen sich hervorragend zu Bratlingen als vegetarische Alternative auf dem Burger oder zu Linsen-Bolognese verarbeiten. Praktisch sind unseren Berglinsen keine kulinarischen Grenzen gesetzt – sie sind nun mal ein echtes Allroundtalent in der Welt des Geschmacks.
Übrigens kann man Berglinsen auch keimen lassen und die Sprossen in Salaten verzehren.
Ausdrücklich bedanke ich mich bei allen, die unser Linsenprojekt in den vergangenen Jahren in vielfältiger Form unterstützt haben. Neben meinem Dank an Holger Gettmann und den Kolleg*innen von Slow Food-Saarland gilt ein besonderes Merci den innovativen Landwirten und Linsenpionieren: Marcus Comtesse, Wadgassen; Werner Brengel, Brenschelbach; Johannes Dörr, Wiesbach, Michel Jund, Ormersviller (F) und Familie Guillaume, Eincheville (F).